Klettercamp Korsika oder die Schule des Lebens

17. August 2017 - 26. August 2017
Heiko Lahne


Nun stehe ich vor einem Problem, denn ausnahmsweise führte das jährliche Klettercamp von Andreas dieses Jahr erneut nach Korsika. Für mich zwar eine gute Nachricht, da ich noch vom letzten Jahr einige offene Rechnungen mit dem schroffen Tafonigestein zu begleichen hatte und die beinahe garantierten 30°C im Schatten genau meine Betriebstemperatur sind, aber schreibe ich also dieses Jahr eine abgewandelte Kopie des letztjährigen Berichtes?

Könnte ich eigentlich tun, aber natürlich ist bereits jedem bekannt, dass der Bavellapass, das Dach Korsikas, ein unvergleichlich schönes Fleckchen Erde ist, dass die Korsen ein störrisches Völkchen sind und dass diese „französische“ Insel die Heimat schönsten Sommerwetters ist, bei dem unzählige Gumpen und Wasserläufe für Erfrischung sorgen.

Der so berühmte, unfassbar zerklüftete Granit des Bavellapasses bildet skurrile Türme, die mit 3 bis 14 Seillängen ein Paradies für jeden Felskletterer sind. Steile Tafonipassagen ermöglichen alpine und dennoch sehr griffige Kletterei im moderaten Schwierigkeitsgrad, teils gebohrt, meistens aber doch nur selbst abzusichern, das dafür aber gut. Und wo man nun einen supermarktartigen Andrang von Gipfelaspiranten erwarten würde, ist man überraschenderweise eigentlich immer alleine mit sich und dem Berg. Nicht einmal das Handy bekommt Verbindung zur Außenwelt. Gibt es etwas Schöneres?

Und doch war dieses Jahr vieles anders. Meine Seilpartner fielen verletzungsbedingt aus und so flog ich alleine mit 26 kg Gepäck nach Korsika. Doch wer die Gelsenkirchener Sektion kennt, der weiß, dass jeder willkommen ist und herzlich aufgenommen wird. (Übrigens der einzige Verein, in dem ich aus Überzeugung Mitglied bin!)

Und auch dieses Jahr war wieder für jeden was dabei, egal, ob man 14 oder 77 ist, Höhenangst hat oder schwindelfrei ist, Jazz oder Heavy Metal hört, Käse oder Schinken aufs Brot legt. Es wurde am Strand und im Canyon gebadet, geritten, gewandert, durch die urigen Dörfer gebummelt, Gitarre gespielt, eine Menge Unsinn erzählt, es wurden Werwölfe gejagt und natürlich Klettermeter gesammelt.

Alles wie im letzten Jahr also? Ich denke nicht, denn eines ist mir während der vielen Meter zwischen den Standplätzen bewusst geworden: Das alpine Klettern ist mehr als Sport, mehr als Zeitvertreib oder Selbstbestätigung. Es ist ein andauernder Entwicklungsprozess, der Technik, Bergerfahrung, Selbstbewusstsein, Vertrauen und Verantwortung schult.

Angefangen hat all das bei mir in Norwegen, wo ich auf den endlos langen Reibungsplatten das Prinzip des Mehrseillängenkletterns verstand und die weiten Hakenabstände mich das Fürchten lehrten. Letztes Jahr auf Korsika lernte ich das Finden und Absichern cleaner Routen und begriff recht schnell, was es bedeutet, wenn der Kopf nicht mitmacht. Und ja, ich gebe zu, dass ich, so schön es letztes Jahr auch war, froh war, die Herausforderung überstanden zu haben.

Dieses Jahr hatte ich also wechselnde Kletterpartner. Am dritten Tag bewies mir Herbert, 77 Jahre und topfit, dass zum Klettern viel mehr als nur jugendliche Energie gehört. Ich staunte nicht schlecht, denn schwerere Routen hätte ich auch nicht klettern wollen. Wenn einer es den ganzen jungen Bengeln zeigen kann, dann Herbert!

Am vierten Tag stand ich mit Marcus und Udo am Wandfuß der Aracale, vor deren eindrucksvoll steiler Nordwand ich mich letztes Jahr so gefürchtet hatte. Zwar ist die Schwierigkeit mit V+ moderat, doch die sogenannte Autorenroute verläuft durch eine große, teils ausgesetzte „wilde“ Wand, in der kein Haken und keine Schlinge einem die Wegfindung abnehmen. Für mich eine echte Herausforderung. Und auch dass Udo als richtig guter Vorsteiger ausfiel, weil er schlicht seinen Gurt vergessen hatte, half nicht. Eine Stunde später und 60 Meter weiter stand ich also mit Marcus allein in dieser steilen Wand, zog brav das Doppelseil hinter mir her und suchte nach Sicherungsmöglichkeiten und einem Weg grob in Richtung Standplatz.

Und da waren sie wieder, die Gedanken: „Was wäre, wenn du stürzt, ... du dich versteigst, ... du keine Sicherung legen kannst, ... der Friend nicht hält, ... du Angst bekommst“ usw. Und ich verstand, dass das Klettern eine sehr fragile Mischung aus Risikobereitschaft und Vernunft, Mut und Vorsicht, Erfahrung haben und Erfahrungen sammeln, Selbstbewusstsein und Angst, Wissen und Improvisation, Überzeugung und Zweifel und Ruhe und Anspannung ist. Diese Form des Kletterns, so scheint mir, verlangt von uns Tugenden, die in unserer Gesellschaft allzu rar geworden sind. Auf wen oder was kann sich denn der Vorsteiger verlassen? Auf niemanden, außer auf sich selbst. Denn nur er kann und muss die hoffentlich richtigen Entscheidungen treffen, ob er ein Risiko eingeht, ob er weiter geht, dem Griff oder der Sicherung vertraut. Kurz gesagt, er muss die volle Verantwortung für sich und den Kletterpartner übernehmen, denn im Unterschied zum alltäglichen Leben ist dort im Fels niemand, dem er die Schuld beim Misslingen zuschieben kann. Jede Entscheidung will wohl überlegt sein und er muss mit den Konsequenzen leben. Es ist schon ein sehr intensives Gefühl, wenn man im Berg, außer Sicht- und Hörweite ist und sich dessen bewusst wird, dass ein Sturz keine Option und ein Abbruch der Route nicht drin ist. In diesen Momenten, wenn man sich der Verantwortung klar bewusst wird, wird man ganz klein und groß zugleich. Oder man wird gerade genauso groß, wie man eben halt ist, denn wenn niemand mehr da ist, kann man sich nichts mehr vormachen.

Ist es das wert, sich quasi vorsätzlich in Gefahr zu bringen? Das darf jeder selbst entscheiden. Wer sich dafür entscheidet, lernt auf jeden Fall etwas fürs Leben: Er lernt, im vollen Maße Verantwortung zu übernehmen, dem Kletterpartner zu vertrauen, die eigenen Fähigkeiten einzuschätzen, irrationale Ängste zu überwinden, Selbstvertrauen zu entwickeln und eventuell auch einmal die Konsequenzen falscher Entscheidungen zu tragen. Denn auch Fehler passieren. Und statt sie zu vertuschen, tut man das, was im Leben das Beste ist: Man lernt draus. Na, wenn das kein Anreiz ist?

Und bei alledem philosophiere ich besser als ich klettere, denn an den nächsten Tagen führte Udo mich in der Linea a l‘Ombra an der Punta di u Chjapponu (VII-) und der U Haddad an der Punta di u Peru (VII+) im Nachstieg an meine Grenzen. Ja, ja, für mich ist da noch viel Luft nach oben.

Mein Fazit: Da es nächstes Jahr nicht noch einmal nach Korsika geht, vermisse ich sie schon jetzt, die kratzbürstige Macchia, die zerklüfteten Tafoniwelten, die weiten Gipfelblicke und den unvermeidlichen Gumpensprung. Aber nächstes Jahr bin ich auf jeden Fall wieder dabei, denn ich habe noch längst nicht ausgelernt und mein Weg ist hier noch nicht zu Ende. Und da bin ich im Klettercamp genau richtig, denn da lernt man von den Besten ...

Fotos: Teilnehmer

Kategorie:
Klettern



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