Körperwärme ist etwas Großartiges

30. September 2016
Sebastian Wessel


Philipp und Sebastian in einer wilden Tour an der Barre Noire. - "Ich habe selten intensivere Momente erlebt als in diesen zwei Tagen."

September 2015 – Philipp und ich machten gemeinsam Urlaub in Ailefroide. An einem Tag, an dem das Wetter nicht so zum Klettern einlud, packten wir unsere Rucksäcke, Führermaterial und Karte, um uns die Einstiege für potenzielle Projekte anzuschauen (man will die wenigen Bergtage, die wir Ruhrpottler haben, schließlich sinnvoll nutzen).

So stiegen wir zum Glacier Noir auf, schauten uns den ersten Einstieg an und auf dem Rückweg passierte es: Wir erblickten zum ersten Mal die Südseite der Barre Noire. Es war um uns geschehen. Am Campingplatz blätterten wir durch den französischen Kletterführer (er ist im Übrigen in Französisch geschrieben und, nur so am Rande, wir sind dieser Sprache nicht mächtig) bis Philipp die Tour fand, die uns in ihren Bann gezogen hatte.

Mit einer Handvoll Klettervokabeln (an dieser Stelle ein dickes Dankeschön an Luzi) versuchten wir, dem Text ein paar Infos zu entlocken. Zwei Tage später war es soweit. Morgens um halb vier machten wir uns auf den Weg. Es war ein wunderschöner Zustieg, aufgrund der sternenklaren Nacht und des Mondlichts stiegen wir ohne künstliche Lichtquelle auf. Um uns herum nahezu absolute Stille, das einzige Geräusch verursachte der Gletscherbach. Ich bekomme allein bei dem Gedanken wieder eine Gänsehaut und würde am liebsten sofort meinen Rucksack packen und losziehen, auf die Suche nach diesen Momenten!

Um mich an dieser Stelle kurz zu fassen – am Einstieg brachen wir ab, da wir uns bei der Neuschneeauflage in der Tour einfach nicht wohlfühlten. Wie sich später herausstellte, war es die richtige Entscheidung: An diesem Tag ging eine Lawine an der Barre des Ecrins ab und wir hätten beim Abstieg den gefährdeten Bereich passieren müssen.

Selfie am Fels
Selfie am Fels

September 2016 – Philipp und ich waren wieder zusammen unterwegs und es ging erneut nach Ailefroide, wir hatten dort schließlich noch eine offene Rechnung. Am 1. September war es dann so weit. Das Wetterfenster war ausreichend, dank Jacques hatten wir den Text aus dem Kletterführer jetzt auch in Deutsch und Motivation war im Überfluss vorhanden. Was sollte der Überschreitung jetzt noch im Wege stehen?

Wir starteten um 4:15 Uhr am Parkplatz vom Pré de Madame Carle. Der Aufstieg war genauso schön wie im Vorjahr und insgesamt lief es auch besser. Um 9 Uhr tauschten wir die Stiefel mit Steigeisen gegen Kletterschuhe und es ging in die erste Seillänge. Die Kletterei war nicht immer ein Genuss und so manche Seillänge mussten wir ohne Zwischensicherung bestreiten, da weder Philipp noch ich mobile Sicherungsgeräte für Geröllhalden besitzen. Es lief recht schleppend und ich denke, hier und da haben wir auch nicht den Weg des Erstbegehers genommen. Als wir am späten Nachmittag auf den Höhenmesser schauten und feststellten, dass es noch gute 200 Höhenmeter bis zum Gipfel waren, entschieden wir, bei passender Gelegenheit zu biwakieren. Um 18 Uhr war es dann soweit. Wir bereiteten uns auf eine sehr lange, kalte und ungemütliche Nacht vor. Wer schon mal mit mir unterwegs war, weiß, dass vor allem Frieren eine meiner Stärken ist, und ich kann euch nach dieser Nacht sagen: In solch einem Biwak in der Wand lernt man sich erst richtig kennen – Körperwärme ist etwas Großartiges, auch die eines anderen!

Sehnsüchtig erwarteten wir die ersten Sonnenstrahlen und um 7:25 Uhr startete Philipp in die erste Seillänge des Tages. Am nächsten Stand erfuhr ich, dass die nächste Seillänge meine war, und wir wussten weder in welche Richtung es weitergeht noch war unsere Moral in bester Verfassung. Daher entschieden wir, dass wir uns verstiegen hatten, und kletterten vier Seillängen ab. Nach langem Hin und Her zauberte ich den Zettel von Jacques aus der Tasche (DANKE, DANKE, DANKE) und wir setzten das Puzzle zusammen. Wir hatten uns morgens nicht verstiegen, sondern den Abzweig mit der 6a-Variante gewählt. Nach drei Stunden Orientierung gehörte mir dann die 5c++ durch senkrechtes loses Geröll. (An dieser Stelle sei gesagt, dass wir in Norwegen eine mit 6+ E2 bewertete Tour geklettert sind. Warum haben die Franzosen keine E-Bewertung? Ich würde die Tour mit E 3 bis 4 bewerten.)

Nach dieser Seillänge stieg auch wieder unsere Moral, denn das Gelände wurde leichter und der Gipfel war greifbar nah. Um 12:45 Uhr kamen wir an, und nachdem wir zwei Seillängen abgeseilt waren, standen wir in der Brèche de Barre Noire. Wir machten eine ausgiebige Pause, rödelten wieder um auf Steigeisen und gingen den Glacier Blanc zurück zum Parkplatz. Um 19 Uhr überfielen wir völlig erschöpft den Pizzawagen an unserem Campingplatz. Dass es nach dem Abendessen keine große Feier anlässlich unserer geglückten Überschreitung gab, kann sich jeder denken. Glücklich und zufrieden fielen wir in unsere Schlafsäcke und schliefen, bevor wir den Reißverschluss zugezogen hatten.

An dieser Stelle möchten wir uns bei den Leuten bedanken, die uns bei diesen Abenteuern unterstützten: Ein großes Dankeschön, Jacques, dass du für uns den Text aus dem französischen Kletterführer übersetzt hast. Heute wissen wir, es wäre einer Erstbegehung gleichgekommen, wenn wir 2015 mit unseren wenigen Übersetzungen in die Tour gegangen wären. Danke, Luzi, für die zwei Seiten Klettervokabeln Französisch/Deutsch. Bitte frage sie aber niemals ab ;-) Danke an Barbara und Detlef. Mit euch durften wir in den letzten zwei Jahren unseren Urlaub verbringen und ihr habt euch vor solchen Aktionen immer um unser leibliches Wohl gekümmert (einschließlich Spülservice!). Und an Marius, der von zu Hause aus mitgefiebert hat und unser Backup gewesen wäre, wenn etwas schiefgegangen wäre.

Abschließend sei gesagt: Packt eure Rucksäcke, raus aus dem urbanen Raum und ab in die Berge. Ich habe selten intensivere Momente erlebt als in diesen zwei Tagen.

 

Bilder: Philipp Erwig und Sebastian Wessel

Kategorie:
Bergsteigen



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